Das mova durch die Augen eines nicht-Pfadis

In meinem Familienkreis gibt es keine Pfadfinder*innen. Niemand wäre auch nur auf die Idee gekommen, an die Pfadi zu denken. Als ich älter wurde, gesellte sich zur Gleichgültigkeit ein Hauch von Irritation – einige Klischees trugen ebenfalls dazu bei – und letztendlich war meine Sicht auf die Pfadi nicht sehr positiv. Weil meine Partnerin Teil der mova-Crew ist, habe ich schliesslich das Lager besucht. In den letzten drei Jahren war ich indirekt an der Planung des mova beteiligt, hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Probleme und Komplikationen. „mova” bedeutete für mich vor allem Wutausbrüche auf dem Balkon und Tränen auf dem Sofa, die mit heissen Bädern, Kräutertees und Schokolade kuriert wurden.   

Kein Wunder also, dass ich vor Beginn des Lagers nicht sehr begeistert war von der Idee, dorthin zu reisen. Dann sah ich die ersten Fotos, die Berichte und Videoausschnitte im Fernsehen. Dreissigtausend ist eine grosse Zahl – ohne Vergleich ist das ganze jedoch schwer greifbar und bleibt einfach nur eine Zahl. Als ich erfuhr, dass es neben all den Aktivitäten auch eine Notfallpraxis, eine Poststelle und Geschäfte geben würde, erhielt das Bild von mova, dass ich bis dahin hatte, allmählich Farbe und Konturen. 

Ich kam am Nachmittag des 1. August an. In den zehn Tagen zuvor war meine Motivation, dieses Werk in natura zu sehen, stetig gewachsen. Einen ersten Eindruck bekam ich bereits im Zug: Mehr als die Zelte überraschten mich die Bauten. Es gibt ein Schloss, aber eigentlich ist es gar kein Schloss, sondern ein Turm aus Holz, mit einem Ausblick über das ganze Lagergelände. Aber für mich ist es ein Schloss, ein modernes Symbol für Kreativität, eine Demonstration von Einfallsreichtum und Teamwork.  

Ich wurde am Bahnhof abgeholt und checkte ein. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir eine Pfadikrawatte um den Hals gelegt. In dem Moment fühlte ich mich ein wenig wie ein Betrüger. Wie? Durch einfaches Mithelfen wird man direkt Teil dieser grossen Familie? Und obwohl es eindeutig einen Unterschied gibt – ich bin kein echter Pfadi, ich habe keinen Pfadinamen –, durfte ich für diese paar Tage eine Krawatte tragen und zählte als ein vollwertiges Mitglied. 

Nach dem Check-In legte ich mein Gepäck ab und begann ohne ein bestimmtes Ziel über das Gelände zu spazieren. Mehrmals musste ich fragen, ob die Bauten schon vor dem Lager existierten, und nein, alles wurde für diesen Anlass aufgebaut. „Es ist beeindruckend zu sehen, was Muskeln, wenn sie richtig eingesetzt werden, in nur einer Woche alles bewirken können“. Eine bessere Beschreibung dafür gibt es nicht. 

Die Feierlichkeiten zum 1. August waren eher vorhersehbar, geprägt von einem Hauch von Patriotismus und Nationalismus. Und doch gab es immer noch diese “Pfadi”-Markenzeichen – Krawatten, die durch die Luft geschwungen werden, Trillerpfeifen, die Gruppen-Rufe – all das was von der Verbindung zeugt, die zwischen allen Pfadfinder*innen besteht, trotz der Unterschiede und der Konflikte im persönlichen Leben. Das war der Moment, in dem ich eine Art Offenbarung erlebte. 

Mit dem Nachlassen der Anspannung vergoss ich ein paar Tränen, weil ich es endlich verstanden hatte. Das BuLa ist die Manifestation einer Identität, die zwischen den Strukturen unserer Gesellschaft lebt.  Für Aussenstehende erinnert all dies möglicherweise an eine Sekte. Auf der einen Seite stimmt das vielleicht, die Pfadikultur entspricht vielen sektiererischen Merkmalen: Initiationsriten, Taufe, Rückzugsorte in den Bergen. Als ich jedoch das BuLa mit eigenen Augen sah und Zeuge des Lebens in dieser temporären Kleinstadt sein konnte, wurde mir klar, dass ich es selbst erleben musste, um die Stärke der Verbindung zwischen den Pfadfinder*innen zu verstehen. Die Stadt lebt.  

Auch jetzt, als ich auf die Suche nach dem besten Platz gehe, um diesen Artikel zu schreiben, bemerke ich neue Löcher im Holz für neue Schlösser, neue Denkmäler, die vom Erfolg jahrelanger Organisation zeugen. Die Stadt lebt. Menschen, die sich nicht kennen, begrüssen sich in allen Sprachen und Dialekten. Sie lachen, sie sind müde, aber zufrieden. Zufrieden, weil sie ein “Schweizer Babel” gebaut haben, ohne die Schwere der Hierarchien. Die Stadt lebt, und dank ihr lebe auch ich. 

Pablo